Ein Fall für die Transkreation

JJ Darboven - Kaffee trinken, du musst.

Warum sind Kaffee trinken und boire un café nicht dasselbe?

Kaffee und café und auch coffee und caffè, das scheint auf den ersten Blick alles dasselbe. Wenn Sie die Wörter in einem Wörterbuch nachschlagen, entsprechen sie sich aufs Haar. Doch sobald Sie an der Oberfläche kratzen, beginnt diese Eindeutigkeit zu bröckeln. Denn Kaffee ist zutiefst von der Kultur geprägt. Bei der Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere kann man sich deshalb fragen: Transkreation oder Übersetzung?

Bilder im Kopf

Warum ist es für die Übersetzung so wichtig, dass Kaffee ein Kulturgetränk ist? Weil es die Bilder in unserem Kopf beeinflusst, die entstehen, wenn ich sage: „Trinken wir einen Kaffee?“ Wenn Sie mögen, können Sie einen kleinen Selbstversuch machen. Betrachten Sie eine Sekunde lang das Bild, das vor Ihrem innere Auge entstanden ist, als Sie den Satz „Trinken wir einen Kaffee?“ gelesen haben. Haben Sie eine Tasse mit Untertasse gesehen, in der dampfend heißer schwarzer Kaffee aus einer Kaffeekanne gegossen wird? Oder war es ein Becher? War es Filterkaffee, Presskannenkaffee oder Kaffee aus einem Automaten? Oder haben Sie gar einen kleinen Espresso vor sich gesehen, samt der typischen Schaumkrone?

Traditionen rund um den Kaffee

Lassen Sie uns für einen Moment das Spiel weiterspielen. Denken Sie an Ihren Kaffee. Sind Sie manchmal bei Freunden oder Familie zum Kaffee und Kuchen eingeladen? Sie wissen wahrscheinlich, was Sie dort erwartet. Was aber, wenn diese Tradition in Ihrer Kultur gar nicht existiert. Wenn es üblicher ist, einen Caffè direkt an der Theke zu bestellen und ihn in einer Sekunde runterzuspülen. Oder zu einer Fastfoodkette zu gehen und sich dort einen Kaffee im Becher zu holen? Oder wenn man überhaupt keinen Kaffee trinkt.

Erwartungshorizont und Fremde

Jedes Mal, wenn Sie das Wort Kaffee hören, werden all diese Bilder in Ihrem Kopf wach. Sie gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung an die Situation heran, in der das Wort Kaffee eine Rolle spielt. Wird dieser Erwartungshorizont enttäuscht, erscheint die Situation fremd. Das kann gewollt sein, denn von einem Roman, der in Italien spielt, erwarten Sie in gewisser Hinsicht auch, dass er sie in dieses Land mitnimmt. Die Fremdheit kann ein erwünschter, sogar ein gesuchter Effekt sein.

Transkreation oder Übersetzung: Der Unterschied liegt im Ansatz

Ein Übersetzer wird sich deshalb darum bemühen, Ihnen eine möglichst klare Vorstellung von der Situation zu geben. Er wird möglicherweise den Caffè mit Espresso übersetzen. Zumindest wird er alles daran setzen, Ihnen ein angemessenes Gleichgewicht aus Klarheit und Fremdheit zu vermitteln. Das Ziel der Transkreation ist es aber, einen Text so erscheinen zu lassen, als wäre in der Zielsprache geschrieben. Der Transcreator wird daher die Situation eventuell so umschreiben, dass sie in der Zielkultur dem Erwartungshorizont entspricht.

Ein Beispiel aus der Praxis

Eine britische Werbeagentur beauftragte uns mit der Transkreation eines Werbespots. Ein Ehepaar verabschiedet vor der Tür ihren Sohn, der sich in sein erstes eigenes Zuhause aufmacht. Nachdem der Junge davongebraust ist, sind die beiden ganz aufgewühlt. Sie gehen gemeinsam zurück ins Haus und der Mann sagt: „I will make us a nice cup of tea.“ Sehr britisch. Die Übersetzung liegt auf der Hand. Aber ist es nicht näherliegender für einen Mann in Deutschland, in einer vergleichbaren Situation an einen Kaffee zu denken? Ohne dabei den Teetrinkern in Deutschland, die es ja durchaus gibt, vor den Kopf zu stoßen, kann man wohl sagen, dass die „Kulturnorm“ der Kaffee ist. Wir haben deswegen unseren fürsorglichen Gatten sagen lassen: „Ich mach uns erstmal eine Tasse Kaffee.“

Transkreation oder Übersetzung: Wie viel Zielkultur darf es sein?

Natürlich ist es sehr kontextabhängig, ob eine solche Übersetzung möglich ist. Gerade in einem Werbespot müssen auch die Bilder mitspielen. Und es ist auch hier die Frage, wie viel Fremdheit gewollt ist. Vielleicht soll ja gerade ein british feel rübergebracht werden. Insofern muss die Transkreation – genau wie die Übersetzung – Bedeutung verhandeln.

Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Kommentare. Mehr zu dem Thema, wie sich verschiedene Traditionen in Getränken niederschlagen, können Sie in diesem Artikel lesen. Sollte der Post Ihnen gefallen haben, bedanken wir uns im Voraus fürs Weiterempfehlen und Liken.

Ahoi und frohes Fest

Ihre Kulturentdecker

Bild: „Kaffee trinken, du musst.“ von J.J.Darboven. Lizenziert unter CC BY-ND 2.0 auf Flickr

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