Zwei ungleiche Schwestern: Übersetzung und Transkreation
Sie überlegen, welchen Ansatz Sie für Ihren Text wählen sollen, Übersetzung oder Transkreation? Um Ihnen die Entscheidung leichter zu machen, wollen wir die Unterschiede genauer beleuchten. Stellen Sie sich Übersetzung und Transkreation wie zwei Schwestern vor. Beide haben die gleichen Eltern, doch die eine ist brav und tugendhaft, die andere wild und voller verrückter Ideen. Die eine hat einen Bausparvertrag und fährt im Urlaub in die Berge, die andere bringt jede Party zum Kochen und kennt die angesagten Läden.
Texttreue: Der heilige Gral der Übersetzer
Eine gute Übersetzung ist treu. Texttreue ist für den Übersetzer der heilige Gral und ein guter Übersetzer sorgt sich um den Ausgangstext wie eine liebende Ehefrau um den werten Gatten in einem 50er-Jahre-Heimatfilm.
Das ist sehr nützlich und sinnvoll bei allen Textsorten, für die Texttreue ein Muss ist: von Rechtstexten wie Verträgen bis hin zu literarischen Werken. Hier will der Leser, will der Autor, dass nah am Text gearbeitet wird: Im Zentrum steht das Werk. Wenn es nicht so ist, kann das besonders bei rechtlichen Texten echte Konsequenzen haben. Und ein Literaturinteressierter, der Thomas Pynchon liest, will wissen, was Thomas Pynchon geschrieben hat – und nicht, was der Übersetzer formulierungstechnisch alles so drauf hat.
Der unsichtbare Arbeiter
Für manche Textsorten gilt: Sobald der Übersetzer spürbar wird, ist das störend, verfälschend und schlicht ärgerlich. Daher muss gerade bei literarischen Texten der Übersetzer ein sehr gutes Gespür für den Autor und dessen Aussage mitbringen. In den Worten von Lydia Davis, passionierte Übersetzerin ins Amerikanische von Autoren wie Flaubert oder Proust: „Ein frustrierender Zug des Übersetzens liegt in der Zurückhaltung, welche die Arbeit gebietet; man hat dem Text treu zu bleiben, muss es vermeiden, in seinen eigenen Stil abzugleiten oder, noch schlimmer, eigene Ideen auszudrücken.“
Transkreation: Die Kreativmaschine
Die Transkreation funktioniert anders und sie hat auch eine andere Aufgabe. Ist der Übersetzer die liebende Ehefrau, dann ist der Transkreator die Femme Fatale. Sexy, modebesessen, kreativ und vor allem – untreu, zumindest dem Wortsinn. Eher wie ein Don Juan, der sagt „Ich liebe die Liebe selbst“, liebt der Transkreator den Impact: Die Wirkung muss stimmen und zum Konzept passen. Wenn der Ausgangstext dafür Äpfel nimmt, der Zieltext aber Birnen, ist das nebensächlich: Hauptsache man kann Obstschnaps draus brennen. Es muss halt knallen.
Wirkung, Wirkung, Wirkung
Auch der Transkreator braucht dafür Fingerspitzengefühl. Einerseits muss er verstehen, welche Wirkung der Ausgangstext erzielen will, andererseits muss er wissen, wie er das Zielpublikum erreichen kann. Seine Domäne ist die Werbung. Das Augenmerk gilt der Tonalität, dem Tone of Voice der Ausgangssprache und der Marke. Da wird dann schon mal aus einem ganzen Satz ein Wort oder aus einem Wort ein ganzer Satz. Einfach nur, weil es dann besser wirkt.
Viele Wege nach Rom
Wann wird sowas wichtig? Richtig, wenn es nicht mehr direkt um den Text geht, sondern um die Kommunikation. Viele Wege führen nach Rom, aber der Weg nach Rom von Paris ist ein anderer als der von Berlin aus.
Der Transkreator macht sich also auf die Suche nach dem besten Weg. Sein Ausgangstext ist häufig extrem dicht und eher kurz – ein Slogan etwa oder auch der „Über uns“-Text auf einer Unternehmensseite. An diesen Texten wurde bereits in der Ausgangssprache lange herumgefeilt. Werbetexter haben gekürzt und an Formulierungen gearbeitet, bis die Kernaussage der Marke klar zum Vorschein tritt. Diese Kernaussage soll nun übertragen werden.
Alles mit Stil
Mit dieser Vorgabe macht sich der Transkreator an die Arbeit und entwickelt nun verschiedene Versionen – die Wege nach Rom. Er verwendet u. a. Alliterationen, (Binnen-)Reime, Wortwitz, Anspielungen, Doppelbedeutungen – Stilmittel also, die auch ein Werbetexter verwendet, um die Kernaussage möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen.
Die Arbeit an der Form
Vom Wortsinn bleibt da mitunter nicht viel übrig. Die Texttreue fällt zugunsten der „Aussagentreue“ unter den Tisch. Die Transkreation macht dabei deutlich, wie facettenreich Sprache und wie prall gefüllt mit kulturellen Aspekten sie ist. Das Herumtüfteln an einem einzigen Satz kann durchaus eine Stunde oder mehr in Anspruch nehmen. Auch deswegen werden Transkreator nicht pro Wort, sondern pro Stunde abgerechnet.
Die Sprache als Markenausdruck
Zum Schluss übersetzt der Transkreator die Adaption zurück in die Ausgangssprache, die sogenannte „Back Translation“, und versieht sie mit einer Erklärung, im Fachjargon „Rationale“, um seine Entscheidungen zu erläutern. Der Auftraggeber erhält 2–3 Versionen mit jeweiligen Erläuterungen zurück und trifft dann die Entscheidung, welche der Adaptionen für ihn der beste Ausdruck seiner Marke ist.
Das richtige Werkzeug
Transkreation und Übersetzung haben beide ihren Wert. In ihrer Domäne sind sie stark. Was Sie für Ihren Text brauchen, hängt davon ab, was Sie mit ihm erreichen möchten. Fragen Sie sich: Will ich Texttreue oder Effekt? Einen kuscheligen Fernsehabend, bei dem man weiß, was man hat, oder einen Partyknaller, bei dem das Ergebnis das Original manchmal sogar überflügelt? Im Idealfall kann der Transkreator übrigens beides. Solche Frauen soll es ja auch geben …
Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, lassen Sie es uns mit einem Like, einem Kommentar oder einer Weiterleitung wissen. Vielen Dank!
Ihre Kulturentdeckerin
Bild rechts: Barbara Stanwyck, Actress, Stage. Lizenziert unter CC0 auf Pixabay.
Bild links: Postkarte, datiert 6.6.1918. Geburtstagskarte, mit Darstellung einer Frau im bayrischen Dirndl mit Blumen. Lizenziert unter CC0 auf Wikipedia.
Schreiben Sie ein Kommentar